Der kleine Anarchist
Ein Whippet kommt selten allein. Daher hatten wir von Anfang an geplant, zwei Whippets zu halten. Loriot kam im Alter von 7 Monaten als Spielkamerad für Candy zu uns. Die beiden kannten sich schon länger von gemeinsamen Spaziergängen, wo sie viel Spaß miteinander hatten. Zu Hause sah es dann ganz anders aus. Während Candy zu Hause schon in jungem Alter seine Ruhe haben wollte, feierte Loriot permanent wilde Partys. So etwas wie “nein” war nicht Bestandteil seiner Lebensphilosophie.
Außerdem war er sehr ungehalten darüber, dass ihn sein Züchter und bisheriger Besitzer einfach bei uns “ausgesetzt” hatte ohne ihn zu fragen. Daher weigerte er sich, mit uns irgendeine Bindung einzugehen, orientierte sich aber stark an Candy und feierte weiter seine Partys.
Wie rufe ich einen Hund, der mich komplett ignoriert? Gar nicht! Ich rufe seinen Kumpel. Der Anarchist kommt dann automatisch auch mit – Problem gelöst.
Nun könnte man meinen, dass er sich über einen Besuch seines Züchters gefreut hätte. Ganz falsch! Der war ja der Böse, daher blieb er lieber bei uns.
Nach etwa 6 Monaten begann er langsam, uns als Mitbewohner zu akzeptieren.
Fakten
DOB: 27.04.2002
DOD: 11.04.2018
Todesursache: Altersschwäche
Rufname: Loriot
Größe: ca. 50 cm
Gewicht: 12,5 kg
Pedigree: Whippet Breedarchive
IK 5 Gen: 11,33% IK 10 Gen: 18,5%
Titel, Championate und weitere Erfolge:
Titel? Wofür braucht man Titel?
Coursingleistungsurkunde
Zulassung für die Gebrauchshundeklasse
Verwandschaftsverhältnisse:
Onkel von Howie
Urgroßonkel von Timo
Übermut tut selten gut
Junge Whippets leben gefährlich. Loriot hatte eine fast sensationelle Körperbeherrschung, die uns oft genug die Schweißperlen auf die Stirn trieb. So sprang er aus vollem Lauf durch Stacheldrahtzäune, ohne diese jemals zu berühren. Er wusste exakt, wieviel Platz er dafür benötigte. Beim Wettrennen mit einer Freundin rannte er frontal vor einen Baum und blieb bewustlos liegen. Nach wenigen Sekunden sprang er wieder auf, schüttelte sich und rannte weiter als wäre nichts geschehen. Er bliebt im Gestrüpp hängen, riss sich die Daumenkrallen aus und verrenkte sich Zehen. Nichts davon konnte ihn bremsen. Er kam mit ausgerenkter Zehe zu mir, zeigte mir die, ließ die Zehe wieder einrenken, bedankte sich und machte weiter wie bisher. Kein Humpeln, keine Schwellung – nichts!
Auch beim Coursing zeigte er den einen oder anderen spektakulären Überschlag. Trotzdem brauchte er von allen unseren Hunden am seltensten die Hilfe unserer Physiotherapeutin.
Das einzige was auffiel, war ein stärkerer Rückenschwung und sein Hang zum Passgang, den er systematisch in allen möglichen Lagen und Geschwindigkeiten durchexerzierte.
Ausstellungen waren nicht sein Ding, Agility schon eher. Dabei benahm er sich wie beim Coursingstart. Allerdings fand er Kontaktzonen höchst überflüssig. Umgekehrt konnte er auf dem Agilitygelände unmöglich von a nach b gehen, ohne nicht mindestens ein Hindernis zu überspringen. Extra für Loriot wurde zwischendurch ein Jumping-Parcour aufgebaut. Zur Not reichten ihm aber auch 4 Hürden im Kreis, um ein paar Runden Spaß zu haben. Gehorsam? Fehlanzeige! Reaktion auf Handzeichen? Wofür?
Fun Facts
Spitznamen:
Lolo
Lülü
Dümdüm
und was sonst noch möglichst viele üs beinhaltet
Berufswünsche:
Pausenclown
Lieblingsbeschäftigung: alles was Spaß macht
Lebensmotto: Ich will Spaß, ich geb’ Gas
Lieblingsübung: Komm auf Handzeichen auf 200m Entfernung
Lieblingsfutter: egal, solange es nicht dasselbe wie gestern ist
Leben mit einem Anarchisten
Loriot hatte eine sehr eigene Vorstellung von einem schönen Leben. Er akzeptierte keinerlei Regeln und Grenzen. Seine Motivation war Spaßmaximierung. Spaß war dabei gleichzusetzen mit Hüpfen, Springen und Rennen sowie dem Erkunden von allem was neu war. Er liebte Veränderungen: neuer Ort, neues Spielzeug, neues Futter, neuer Name. Eine Zeit lang änderten wir den Rufnamen alle paar Wochen, sehr zu seiner Freude.
Da sein Benehmen öfter zu Konflikten führte, lernte er, sich auf seinen eigenen Bereicht zu beschränken und andere nicht zu belästigen. Innerhalb seiner kleinen Käseglocke war er der uneingeschränkte König. Damit konnten wir alle gut leben.
Außerhalb seiner Käseglocke bestand die Kunst darin, ihm alles als großen Spaß zu verkaufen. Hatte er Lust auf genau diese Übung, konnte er sehr ausdauernd mitarbeiten. Seine Lieblingsübung war tatsächlich “Komm” aus großer Entfernung auf Handzeichen, denn je größer die Entfernung war, desto schneller konnte er rennen.
Wie nicht anders zu erwarten war, fand er großen Spaß am Bällchen- und Frisbeespiel – solange niemand erwartete, dass er irgendetwas davon wieder abgab oder gar apportierte. So verschwanden etliche Bälle auf wundersame Weise. Später erzogen wir Dari als Balljungen, der das Problem zuverlässig löste.
Skills
Der Schock - Bandscheibenvorfall
Als Loriot 12 Jahre alt war, fing er plötzlich an, sich vermehrt zu kratzen. Die Tierärztin tippte auf Milbenbefall. Nach einen Spot-on wurde es zunächst besser. Kurz darauf bekam er starke Magen-Darm-Probleme. Obwohl es ihm sehr schlecht ging, war keine Ursache dafür zu finden. Zwei Tage später schien alles wieder ok. In den folgenden Monaten fraß er sehr unzuverlässig und niemals zweimal dasselbe hintereinander und kratzte sich immer wieder. Eine Ursache war nicht zu finden. Ansonsten war er der alte Spaßkopf und rannte vergnügt durch die Gegend.
Kurz vor seinem 13. Geburtstag bekam er plötzlich Lähmungserscheinungen in der Hinterhand. Ein Blutbild zeigte zudem massiv erhöhte Leberwerte. Auf einem Röntgenbild war ein verdächtig enge Wirbelspalt zu sehen. Wir entschlissen uns, so schnell wie mögliche ein MRT machen zu lassen. Dazu mussten jedoch zuerst die Leberprobleme behandelt werden, da Loriot in seinem Zustand nicht narkosefähig war. In der Zeit wurde die Lähmung immer schlimmer. Die sofort eingeleitete Behandlung mit Cortison blieb erfolglos. Zusätzlich bekam er natürlich hoch dosiert Schmerzmittel.
Trotz weiterhin erhöhten Leberwerte blieb uns irgenswann keine Wahl, als die Narkose zu riskieren. Ein CT zeigte das ganze Ausmaß der Katastrophe: Eine geplatzte Bandscheibe, deren Inhalt in den Wirbelkanal gelaufen war und das Rückenmark zusammenquetschte. Der Chirurg fragte mich, ob Loriot mal gestürzt sei. Tatsächlich meinte er aber keinen Sturz, sondern eher ein heftiges Ereignis wie zum Beispiel einen Autounfall.
Als mögliche Ursache kam nur eine Situation in Betracht, wo ihm ein junger Boxer in den Rücken gesprungen war. Nach dem Ereignis hatte er Blutergüsse am Rücken und hatte mehrere Tage gelahmt. Das war jedoch bereits mehr als 11 Jahre her. In der Zeit war er von 4 verschiedenen Haustierärzten, 2 Physiotherapeuten und diversen Bahntierärzten untersucht worden. Niemand hatte jemals die Vermutung, dass etwas mit ihm nicht stimmen könnte. In der ganzen Zeit hatte er auch weder Schmerzen noch Bewegungsunlust gezeigt.
Operation und Klinikaufenthalt
Nach kurzer Beratung beschlossen wir, Loriot operieren zu lassen. Trotz seiner fast 13 Jahre war er körperlich und geistig fit, und er war ein Kämpfer.
Die schwere Operation dauerte mehrere Stunden. Dabei wurde seitlich ein Fenster in den Wirbel geschnitten, um den Bandscheibeninhalt entfernen zu können. Das gelang nur teilweise, weil die knetgummiartige Masse sich um das Rückenmark gewickelt hatte und der Zugang nur von einer Seite aus möglich war. Aus dem Grund, und um das Rückenmark nicht weiter zu schädigen, musste ein Teil im Wirbelkanal belassen werden.
Nach der OP sollte Loriot für etwa eine Woche in der Tierklinik bleiben und dort mehrmals täglich mit Physiotherapie behandelt werden. Die Rechnung ging für die Tierklinik nicht auf. Sobald Loriot wieder kriechen konnte, zeigte er sehr deutlich, was er von Gefangenschaft und mangelndem Komfort hält. Zu dem Zeitpunkt war er vollständig gelähmt und konnte nicht selbstständig Urin absetzen. Allerdings versuchte er zu stehen, wenn man in hinstellte.
Ich bekam genaue Anweisungen für heimische Übungen und sollte ihn beim Stehen mit einem Handtuch unter dem Bauch unterstützen. Außerdem waren zwei Physiotherapiesitzungen pro Woche geplant.
Wieder zu Hause
Als ich ihn, zu Haus angekommen, aus dem Auto hob, wollte er sofort runter auf den Boden. Er hockte sich auf den Rasen und ließ laufen. Urin absetzen ging also offenbar. Anschließend marschierte er los in Richtung Eingangstür während ich mit der vom der TK mitgelieferten Mullbinde versuchte, sein Heck zu bändigen. In der Wohnung suchte er zuerst seinen Fressnapf auf.
In den nächsten Tagen übten wir Stehen und Laufen. Er konnte schnell sein Gewicht tragen, hatte aber keine Balance und keinerlei Stellreflex. Da ich ihn nur am Stürzen hindern musste, erwies sich schnell, dass das einfachste Hilfsmittel eine Leine um den Bauch war. Die konnte ich schließen und konnte Loriot so mit einer Hand halten. Dadurch hatte ich die zweite Hand frei, um ihn vorne mit einer Leine zu steuern und zu bremsen.
Das war auch sehr nötig, denn auch in diesem Zustand waren Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht Bestandteil seiner Lebensphilosophie. Innerhalb einer Woche hatte er gelernt, sich so weit zustabilisieren, dass die Unterstützung nicht mehr notwendig war. Beim zweiten Besuch in der TK konnte der ebenfalls anwesende Chirurg kaum glauben, dass das derselbe Hund war.
Rekonvaleszenz
Nun hieß es für insgesammt 4 Wochen nach der OP Leinenzwang einzuhalten. In der Zeit lernte Loriot, dass Menschen nicht nur als Futterlieferant und zur Bespaßung sinnvoll sind, und begann, eine Bindung zu uns aufzubauen. Auch lernte er an der Leine zu gehen ohne auch nur ein bischen zu ziehen.
Wir gingen jeden Tag Trainingsrunden. Schaffte er es nach einer Woche von der Haustür bis zum Auto und zurück, waren wir nach 4 Wochen bei 1km in 30 Minuten. An seinem 13. Geburtstag durfte er zum ersten Mal wieder frei laufen.
Und wie nicht anders zu erwarten war, rannte er los. Dabei schien ihm, dass er nicht alleine sei. Irgendetwas lief neben ihm. Auf den zweiten Blick stellte er fest, dass er von seinem eigenen Heck überholt wurde. Er lernte schnell, seinen eigenen Körper auf Sicht zu steuern. Überholte das Heck, wich er aus und stabilisierte sich. Das sah sehr abenteuerlich aus, funktionierte aber wunderbar.
Urlaub
Wenige Tage nach seinem Geburtstag fuhren wir in den Urlaub nach Texel. Mit im Gepäck war ein faltbarer Bollerwagen, um ihn über längere Strecken fahren zu können. Den haben wir einmal benutzt, drin gesessen hat er nicht. Er weigerte sich! Stattdessen lief er mit Pausen zwei Stunden am Strand und am nächsten Tag gleich nochmal.
Vier Monate später wanderte er mit uns schon wieder durch die Berglangschaften von Wales.
Wie es weiter ging
Ein ganzes Jahr lang gab es immer weitere Fortschritte bei seinen Koordinationsfähigkeiten. Die Stellreflexe hinten kamen nicht wieder. Dennoch konnte er die Füße korrekt aufsetzen. und sogar Hindernisse übersteigen ohne anzuecken. Und es blieb eine Überreizung bestimmter Nerven, die zu Juckreiz führten. Zu dem Juckreiz, den sich ein Jahr zuvor niemand hatte erklären können.
Schon immer fröstelte Loriot schnell. Nach der OP wurde das deutlich mehr. Daher trug er danach fast immer, auch im Haus, einen Pullover. Der “blau getupfte Marienkäfer” wurde schnell sein Markenzeichen.
Loriot lebte nach der schweren OP noch 3 Jahre bei guter Gesundheit und bester Laune. Sein Glas war in der Zeit ganz voll – immer!